Hochdeutsch Peter Eckert: Diesseits von Jenseits  (1999) Das wird wieder ein Tag. Aufstehen, und ich habe kaum geschlafen. Zur Arbeit, und es kotzt mich an. Und abends der krönende Abschluss: zum Essen zu den Eltern; auch das noch. Und kein Ausweg. Mutter wird was kochen, so gut sie kann. Und dann läuft wieder der Fernseher. Vater wird den Sportkanal einschalten. Warum auch ausgerechnet heute nicht? Anita und Rita finden nach zwei Minuten einen Grund, sich die Augen auszukratzen, wenn nicht, dann wärmen sie den Krach vom letzten Mal auf.  Und nach dem vierten Bier fängt auch noch Schwager Heiko an mit seinem dummen Politik-Gelaber. Hinterher mault Anita wieder: "Es hätte so ein schöner Abend werden können, und du schleppst mich hierhin. Nichts gegen deine Leute, aber sie sind einfach eine Zumutung. Den ganzen Abend hast du mir verdorben." Ich ihr! Was sie mir verdorben hat, kümmert sie nicht. Allein schon, wie oft sie "Scheiße" sagt. Wenn sie in Form ist, schafft sie das in spätestens jedem fünften Satz. Dabei braucht sie es nur wie ich zu machen: einfach, so tun, als wäre man nicht gemeint, einfach den Mund halten. Einfach wegtauchen, dann lösen sich die meisten Probleme von selbst in Wohlgefallen auf. Stattdessen wird sie wieder den ganzen Abend rumquengeln und keinem Streit aus dem Weg gehen. Das sind Aussichten! Aber immer noch besser, als mit ihr allein Valentinstag feiern, so in der Art, die sie romantisch nennt: Ein sogenanntes schickes Restaurant. Kellner, die noch größere Snobs sind, als die Leute, die sie normalerweise zu bedienen geruhen. Miniportionen, die nach nichts schmecken. Und zum Abschluss eine Rechnung, für die ich drei Tage arbeiten muss. Ließe ich mir alles noch gefallen. Aber das Schlimmste dabei: Sie hätte mich, wie sie es sagt, endlich mal wieder ganz für sich. "Achim, wir müssen reden!" Wie ich diesen Satz hasse! Reden, reden, reden.  Miteinander reden, nennt sie es. Tatsächlich redet sie, und ich soll zuhören und dann ja sagen. Bevor wir geheiratet haben, war das anders. "Ich weiß gar nichts von dir. Erzähl doch mal was." Und ich habe erzählt, manchmal, auch wenn ich eigentlich nicht wollte. Heute weiß ich: Sie hat mir nie zugehört oder alles vergessen. Toll, dass sie wenigstens noch meinen Namen kennt. Am Anfang der Ehe wollte ich sogar nach ihren Regeln mitspielen. Aber meistens merkte sie es gar nicht, wenn ich antworten wollte, sprach einfach weiter. Und wenn es mir doch mal gelang, einen halben Satz rauszubringen, eine Sekunde Pause machte, dann machte sie meinen Satz fertig. In ihrem Sinne fertig. Und hinterher sagte sie dann: "Aber das hast du doch gesagt." Schob mir ihre eigenen Sätze unter. "Das hast du doch gesagt. Weiß ich genau." Nach und nach habe ich es aufgegeben. Eine Zeitlang schaffte sie es dann, Gespräche mit sich selbst zu führen. Behauptungen, Gegenfragen, Antworten. Irgendwann ist es ihr dann wohl aufgefallen, oder irgendwer hat es ihr gesagt. Seither will sie mich wieder zu Antworten verleiten. Den ganzen Zirkus wieder von vorn? Nicht mit mir. Und wenn es anders nicht geht, gehe ich ihr aus dem Weg. Seit einiger Zeit fängt sie deshalb morgens nach dem Aufwachen an: "Achim, wir müssen reden." Das erste, was ich höre, wenn der Wecker abgestellt ist. Wer hält sowas schon aus? Also ziehe ich nachts mit Sack und Pack aus und schlafe auf der Couch. Nicht gut, nein, durchaus nicht. Aber weil der morgendliche Schock zeitverzögert kommt, ist es mir das wert. Wenn der Zeitungsbote die Zeitung gegen die Haustür wirft, bin ich meistens schon wach und stehe auf, weil ich doch nicht mehr schlafen kann. Den Kaffee mache ich dann so, wie er mir schmeckt. Und meine Zeitung lese ich in Ruhe. Die Comicseite nehme ich mir ganz zum Schluss vor. Phantom, Blondie, Sexy Sadie. Kleine, verrückte Geschichten. Aber die sollen verrückt sein und sind nicht halb so verrückt wie mein eigenes Leben. Bei Little Annie Fanny höre ich meistens das Geräusch der Schlafzimmer-Jalousie. Natürlich, da ist es. Gleich wird sie in der Tür stehen, und die himmlische Ruhe hat ein Ende. "Guten Morgen!" Ihre Stimme hat wieder diesen kampflustigen Unterton, und ich merke, wie sich mein Magen verkrampft. Früher gab es einen Guten-Morgen-Kuss, heute sieht es nur noch so aus, flüchtig hingehaucht. Alles, was darüber hinausgeht, nimmt sie als Aufforderung für irgendwas. Wahrscheinlich wird sie über den Kaffee meckern. Zu heiß, zu kalt, zu abgestanden, zu stark, zu fade, zu wenig. Nein, heute lässt sie sich was anderes einfallen: "Was gibt es Neues in der bösen weiten Welt?" Verarschen kann ich mich eigentlich selber, und eine Antwort darauf kann sie unmöglich erwarten. "Das Übliche," sage ich und nippe am Kaffee, um Zeit zu gewinnen. Das Milchauto klingelt, aber nicht für uns, jetzt nicht und wohl in Zukunft nicht. "Achim, wir müssen reden." Natürlich, wieder mal. "Worüber?" Ich weiß es nicht, aber ich ahne nichts Gutes. Immerhin ist heute Valentinstag. "Kinder." Kinder? Darüber haben wir doch schon endlos gequatscht. Kinder? Nichts dagegen, grundsätzlich. Zwei, drei, vier, bunt gemischt. So hatte ich es mir mal vorgestellt. Zu Hause waren wir auch drei. Eigentlich bin ich ein Herdentier. Ich habe gern Leben um mich. Und das Haus wäre groß genug. Aber Kinder mit ihr? Nach allem, was ich inzwischen von ihr weiß? Kinder, das wird ohne Sex schwer hinzukriegen sein. Aber da ist überwiegend Funkstille. Am Anfang mochten wir es, hatten beide unseren Spaß. So schien es wenigstens. Bis ich dann merkte: Das war auch nur Mittel zum Zweck. Theater hat sie mir vorgespielt, solange sie es schaffte und es für nötig hielt. Theater im Bett, das hat mir gerade noch gefehlt. Sie tat, als wäre ich das Beste, was sie in ihrem ganzen Leben hatte, und erst glaubte ich es auch. Dabei hätte ich es durchaus verkraftet, wenn es nicht gleich das Größte gewesen wäre. An die anderen Frauen musste ich mich auch erst gewöhnen und sie sich an mich. Reden muss man halt miteinander, wenn man die Abstimmung nicht ohne Worte schafft. Aber darüber redete sie nie, meine redelustige Anita. Es war ihr egal, ob es klappte. Und dann merkte ich durch Zufall auch wieso. Aber wozu braucht sie dann mich? Kinder. Natürlich! Das schafft sie auf diese Weise nicht. Dazu bin ich gut genug. Ich muss was sagen. "Ich dachte, das Thema wäre erledigt." Ich habe mich gewunden wie ein Wurm, habe versucht, Zeit herauszuschinden, habe gehofft, das war alles nur ein böser Traum, und aus unserer Beziehung wird doch noch was. Wir haben uns doch mal geliebt. Gerade mal zwei Jahre sind wir verheiratet. Und wir waren doch alt genug, um zu wissen, was wir tun. "Nein, für dich ist das Thema erledigt, aber nicht für mich. Ich verstehe dich nicht, Achim. Du bist doch so ein Familienmensch. Warum willst du keine Kinder?" Warum ich keine Kinder will? So ein Blödsinn. Aber seit ich diesen Verdacht habe, sie hat mich überhaupt nur geheiratet, weil sie Kinder will, egal mit wem, ist mir die Lust vergangen. Ich bin doch ein Mensch und kein Deckhengst. Wenn die Kinder erst mal da sind, bin ich völlig abgemeldet. Dann bin ich Störenfried im eigenen Haus. Und wenn ich mich dann scheiden lasse? Erstens wäre es unfair den Kindern gegenüber. Und zweitens könnte ich mir dann gleich einen Strick kaufen, denn wo ich dann das nötige Geld hernehmen soll, ich weiß es nicht. So oder so, wie es derzeit aussieht, ist die Beziehung im Eimer. Und solange wir sie da nicht rausbringen, wäre ein Kind eine zusätzliche Belastung. Sie bleibt erstaunlich still. Vielleicht will sie wirklich mal meine Antwort hören. "Ich glaube nicht, dass ein Kind noch etwas retten kann." Sie wird blass, läuft rot an. "Achim, wir sind verheiratet. Wir sind Mann und Frau, verstehst du eigentlich, was das heißt? In guten und in schlechten Zeiten, erinnerst du dich? Wir haben Probleme, okay. Aber wir können diese Probleme lösen, wenn wir nun endlich darüber reden. Sag mir, was dich an unserer Beziehung stört, und wir werden es ändern! Wir könnten auch in eine Eheberatung gehen..." Anitas Redefluss bricht abrupt ab. Sie hat was gesagt, was sie eigentlich nicht sagen wollte. Eheberatung, damit hat sie schon einige Male vorsichtig vorgefühlt. Ich weiß nicht wieso, aber allein schon, dass dieser Vorschlag von ihr kommt, macht mich misstrauisch. Das klingt so harmlos und soll wohl doch nur dazu herhalten, mich ganz klein zu kriegen. Ich weiß nicht, wie genau es bei so einer Eheberatung zugeht. Aber fürchte, sie wird auch dort reden, reden, reden, wird mich in Grund und Boden reden. Sie wird ihren Standpunkt einleuchtend darlegen und ich werde der böse Volltrottel sein. Frauen hätten die größere soziale Kompetenz, das hat sie mir öfter als einmal gesagt. Wenn ich dorthin mit ihr gehe, dann ist alles verloren. Nein, wenn wir unsere Beziehung retten wollen, dann miteinander. Und dann kann es nicht nur nach ihrem Kopf gehen. Aber will sie es denn? Und warum? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, jetzt muss ich erst mal raus hier, wegtauchen. Ich muss mit mir selbst ins reine kommen. Immerhin, sie ist meine Frau. Sie ist immer noch mein Typ, äußerlich. Und wir glaubten doch mal, dass wir uns lieben. Ich schaue auf meine Uhr. "Ich muss heute früher ins Büro!" Ein alter Trick, klappt meistens. Sie verstellt mir den Weg. Will mich überreden, heute Abend nicht zu meinen Eltern gehen, will ausgehen oder selbst was Exotisches kochen. Ja, wenn alles in Ordnung wäre... Aber nichts ist in Ordnung. Noch nichts. Und außerdem haben wir fest zugesagt. "Wir können jetzt nicht mehr absagen, meine Mutter hat sicher schon eingekauft und so. Ich hole dich um sieben ab." Ist es Flucht? Ja, ich glaub' schon. Aber dies war das letzte Mal. Ich muss hier durch, so oder so. Ich habe einen ganzen Tag Zeit. Ob ich heute Abend klüger bin? Ausgangspunkt dieses Textes ist ein Text von Claudia Drescher: Michelle / Orlando, Florida / 7 Uhr EST (13 Uhr MEZ)