Hochdeutsch Peter Eckert Die Fabel vom Wolf, der zu Höherem geboren war 1995 Ein im einstweiligen Ruhestand wesender Leitwolf mit Namen Katharina hatte längere Zeit mit gutem Erfolg in einem Waldstück nahe einer gelegenen Kleinstadt mittlerer Beschaffenheit grassiert und sich dabei unter anderem von weitgehend tierischer und pflanzlicher Mischkost genährt. Da dünkte ihn eines Tages im April, als eben der Lenz, fröhlich sein verschwenderisches Füllhorn schwingend, das grünende Land bereiste, er sei zu Höherem geboren, und es stehe ihm derhalben wohl an, stellvertretender Abteilungsleiter, wenn nicht gar Hochfrequenztechniker zu sein. "Ich bin zu Höherem geboren," dachte er bei sich. "Es stünde mir wohl an, stellvertretender Abteilungsleiter zu sein, wenn nicht gar Hochfrequenztechniker." In der darauf folgenden Nacht warf er sich auf seiner Lagerstätte unruhig umher und sprach ein ums andere Mal in motivierendem Tonfall: “Es muss etwas geschehen! Es muss etwas geschehen! Es muss, es muss – und koste es mein Leben.” Und dazu ballte er den Faust. So begab er sich denn wohlgemut des anderen Tages in aller Herrgottsfrühe zum Arbeitsamt, da ihn wacker deuchte, dies sei der rechte erste Schritt zur Verwirklichung dessen, was ihm eingegeben ward. Der Arbeitsbeamte hingegen hatte, wie es der allzeit bereite Volksmund  in aller Entschiedenheit zu nennen pflegt, gleitende Arbeitszeit und war deshalb in jener Herrgottsfrühe noch nicht anwesend, so dass der Wolf eine gute Weile seiner warten musste. Als der Arbeitsbeamte - sein Name war Birkenband oder Schrimbeck oder Schmetzwörgler - schließlich erschien, erschrak er fast zu Tode, als er des Wolfes gewahr wurde. Jener aber hub an, redete und sprach also: "Höre!" sagte er. "Ich bin mit mir übereingekommen, dass ich zu Höherem geboren bin. Es stünde mir, so dächte ich zuversichtlich, wohl an, stellvertretender Abteilungsleiter zu sein, wenn nicht gar Hochfrequenztechniker." Der Arbeitsbeamte seinerseits hatte sich in der Zwischenzeit gefasst und antwortete machtvoll, aber gleichwohl dezent: "Dies ist die in voller Gänze unmaßgebliche Meinung eines inkompetenten Wesens. Ich darf Ihnen daher mit der gebotenen Sorgfalt antworten: Nein!" Zur Tür seiner dumpfen Stube gewandt rief er: "Der Nächste bitte!" Und da der im einstweiligen Ruhestand wesende Leitwolf mit Namen Katharina noch immer jählings auf dem Besucherschemel kauerte, jagte er ihn, nicht ohne fehlende innere Anteilnahme, brüsk davon. Mit weiten, raumgreifenden Sprüngen lief der Wolf wie ein davongejagter Wolf von dannen und verkroch sich mählich in seiner Behausung. "Ich habe zwar mein Ziel nicht erreicht, aber dabei viel an Klarheit gewonnen," dachte er bei sich. Und da hatte er recht, denn hatte er auch sein Ziel nicht erreicht, so hatte er doch viel an Klarheit gewonnen. Und das ist ja auch etwas wert. Illustrationen: Gustave Doré